Adventskalender „Don’t go Pollmer!“ Tür 22: „Rechenfehler: Die Massentierhaltung führt zu immer höheren Tierzahlen“

Adventskalender „Don’t go Pollmer!“ Tür 22: „Rechenfehler: Die Massentierhaltung führt zu immer höheren Tierzahlen“

Kurzzusammenfassung:

Udo Pollmer und seine Co-Autoren versuchen, anhand von Zahlen über die in Deutschland gehaltenen Tiere zu belegen, dass weniger Tiere gehalten werden müssen, wenn man auf die Methoden der Massentierhaltung setzt. Die Produktivität habe sich dank Massentierhaltung gesteigert, so dass in 2013 gegenüber 1950 4 Millionen Großvieheinheiten (GV) weniger gehalten wurden (13 Millionen GV  in 2013 statt 17 Millionen GV 1950). Der Eindruck der gestiegenen Anzahl an gehaltenen Tieren, so die Autoren, sei rein optisch.
Kommt auch heute mit ins phantasiereiche Land „Pollmeria“ und lest unseren 22. Beitrag zum gelungensten Veganismus-Buch des Jahres 2015: „Don’t Go Veggie!“

Ihr wisst nicht worum es geht? Hier geht es zur Einleitung und hier geht es zur 21. Tür des Kalenders „These: Der Mensch diskriminiert Tiere„.

„Rechenfehler: Die Massentierhaltung führt zu immer höheren Tierzahlen“

Weniger ist mehr?

Wenig Tiere zu halten, so impliziert es dieses Kapitel, ist irgendwie besser. Dazu holen die Autoren weit aus und bemühen eine Statistik, die 100 Jahre weit zurückblickt und aufzeigt, wie viele Großvieheinheiten (GV) denn in Deutschland gehalten wurden. Eine GV, das entspricht 500 kg Lebendgewicht, so erläutern die Autoren – eine Kuh, 250 Masthühner, vier Schweine, das entspricht alles jeweils einer GV. Und sie kommen zum Schluss: Früher waren das viel mehr. Während 1950 in Deutschland noch 16,6 Millionen GV gehalten wurden, waren es 2013 nur noch 13,1.
Besondere Mühe machen die Autoren sich mit der Erwähnung von Pferden, die im großen “Großvieheinheiten”-Eintopf mitgezählt werden. Pferde zählen 0,8  bis 1,5 GV pro Tier (vom Pony bis zum Friesen).
1950 wurden noch mehr als 1.155.000 GV Pferde1 gehalten, 2007 waren es nur noch gut 275.000 GV [7]. Da die Pferde trotzdem ultimativ im Kochtopf landeten, so argumentieren die Autoren, rechnen sie die Pferde aber dennoch nicht aus der Zahl der gehaltenen Großvieheinheiten heraus und schönen die Zahl der GV von 1950 damit um gut eine Million nach oben – das, obschon man davon ausgehen darf, dass der Großteil der gezählten Pferde nicht gehalten wurde, um zur Ernährung der Bevölkerung beizutragen. Zum Wiehern.

Produktivität in Lebendmasse

Wie sich der statistische Eintopf “Großvieheinheit” zusammensetzt, ist aber durchaus interessant. Bleiben wir beim Beispiel der Pferde, denen damals wie heute in der Regel ein deutlich längeres Leben zugestanden wird als beispielsweise einem Masthuhn, und ggf. in den Zahlen von 1960 dasselbe Pferd auftaucht wie schon 1950, jedoch nicht dasselbe Huhn, auch wenn letzteres durchaus mehr als 10 Jahre alt hätte werden können, hätte man ihm nur Gelegenheit dazu gegeben. Ohnehin ist die Lebenserwartung der gezählten Tiere ein interessanter Aspekt. Wie Herr Pollmer und seine Co-Autoren richtig schreiben, hat die Produktivität in der Tiermast im Laufe der letzten 50 bis 100 Jahre kräftig zugenommen).

Entwicklung des Masthuhns – 1957 bis 2005
Entwicklung eines Masthuhns seit 1957 bis heute. Quelle: „Growth, efficiency, and yield of commercial broilers from 1957, 1978, and 2005“, Zuidhof et al, 2014. http://ps.oxfordjournals.org/content/93/12/2970.full

Das äußert sich zum Beispiel darin, dass die durchschnittliche Jahres-Milchleistung einer Kuh seit 1950 von 2,5 t auf enorme 7,6 t gestiegen ist [2]. Oder darin, dass in den Mastbetrieben Enten herangezogen werden, die derart schwere Brustmuskulatur entwickeln, dass sie umkippen und nicht mehr allein aufstehen können, so dass sie im Stall verdursten [1].  Oder darin, dass Puten vor lauter Masse Beinstellungsanomalien entwickeln, und bei denen manchen Hähnen unter der Last ihrer Muskelmasse die Oberschenkelknochen brechen [3].Und die Ställe sind heute nahezu durchgängig mit Schweinezüchtungen besetzt, die 16 Rippenpaare haben, statt nur 12, wie ein Wildschwein. Der Metzger freut sich über 8 Koteletts mehr. Die Standzeiten in den Ställen sind kürzer denn je – bei den Milchkühen, weil sie spätestens mit 5 Jahren ausgelaugt sind, bei den “Fleischlieferanten”, weil sie schlachtreif sind, sobald die Rate ihrer Gewichtszunahme das Maximum überschritten hat. Das heißt: Mehr Gewicht wäre möglich, aber nicht wirtschaftlich. Da wird das Bessere zum Feind des Guten, das Ferkel – unwissentlich – zum Feind seiner älteren Geschwister.

Das sind natürlich alles Errungenschaften der modernen Landwirtschaft, die nicht ohne Einsatz adäquaten, hoch nährstoffdichten Futters (wie etwa Sojaschrot) erzielt werden können. Für die Bildung von proteinreicher Muskelmasse bzw. ebensolcher Körpersekrete braucht ein Organismus einen entsprechenden Input an essentiellen Aminosäuren, wie jeder Bodybuilder gern bestätigen wird. Von Abfällen, wie noch in der häuslichen Kleintierhaltung, wird heute kein Schwein mehr fett.

Denkfehler?

Der Denkfehler der Autoren – wenn es sich nicht um gezielte Irreführung des Lesers handelt: Bei all der gesteigerten Effektivität legt der Landwirt nach erledigter Mast nicht die Hände in den Schoß. Will sagen: Die durch die verkürzten Mastzeiten gewonnene Zeit nutzt er nicht als Freizeit – im Gegenteil, er wird seine Stallplätze schon aus wirtschaftlichem Druck eilends wieder besetzen, denn Zeit ist Geld, der Gewinn pro Tier gering, die Fixkosten hoch – da hilft nur Umsatz, Umsatz, Umsatz.
Vor 50 Jahren brauchte etwa ein Huhn 2 Monate, bis es ein Kilo wog und sein Recht erhielt, “ordnungsgemäß geschlachtet und verspeist zu werden”. Heute vergehen gerade noch 33 Tage, bis der Großstall von tausenden Tieren geräumt wird, um alsbald wieder besetzt zu werden [5]. Und in der Schweinemast besetzt der Mäster heute seine Stallungen ca. zweieinhalb bis dreimal pro Jahr mit jungen, 25 Kilo schweren Ferkeln, die innerhalb von rund vier Monaten 100 Kilogramm Gewicht angefüttert bekommen, um dann als “schlachtreif” deklariert zu werden. Schweine, die extensiv gehalten werden, wie etwa die spanischen Iberico-Schweine, brauchen dazu weit mehr als ein ganzes Jahr – sie wiegen dann zwar 180 kg, aber in der Massentierhaltung “erzeugt” man mit den entsprechenden Rassen, ausgeklügelten Haltungsmethoden und dem bereits erwähnten Hochleistungsfutter in derselben Zeit 500 Kilogramm Lebendgewicht – aber unter Einsatz des Lebens von vier Schweinen. Macht man zu einem bestimmten Stichtag eine Inventur, so zählen aber sowohl das hiesige Hybrid-Schwein als auch sein iberischer Verwandter in der Statistik jeweils als nur ein Tier.

Fleischverbrauch pro Kopf, Deutschland (1950-1990: Westdeutschland) Quelle: [4] Seite 17
Und so schließt sich denn auch die Lücke zwischen dem seit 1950 stark gestiegenen Fleischverbrauch und der geringeren Anzahl der gehaltenen Großvieheinheiten, die eine reine Verdopplung der Produktivität nicht schließen kann: In der Massentierhaltung braucht man aufgrund der drastisch verkürzten Mastzeit signifikant weniger Stallplätze, um eine erheblich größere Anzahl an Tieren durchzuschleusen. So werden zwar weniger Tiere gleichzeitig gehalten, dennoch starben 2015 in Deutschlands Schlachthöfen insgesamt 776.500.000 Tiere. So viele wie fast noch nie zuvor. [6]

Zusammenfassung

Durch züchterische Auslese ist es heute in der Tat möglich, eine gegebene Menge Fleisch mit weniger Tieren zu erzeugen. Nun sind Tiere aber mehr als bloße Gestelle, an denen Fleisch wächst, und sie leiden durch diese Züchtungs”erfolge” unter massiven körperlichen Handicaps, die es ihnen kaum noch erlauben, auch nur den kurzen Zeitraum der Mast zu überleben – und viele überleben nicht einmal diesen. Es ist vermessen, Produktivitätszuwächse in der Tiermast als Errungenschaft hochzuhalten, ohne gleichzeitig zu erwähnen, dass eben diese hohe Produktivität auf Kosten der Tiere erkauft wird: Ihren Körpern wird permanente Höchstleistung abverlangt, und in der Agrarindustrie werden Züchtungen bevorzugt, die so monströs sind, dass sie außerhalb der Großställe und über die geplante Lebensdauer hinaus gar nicht lebensfähig wären. Überall dort, wo Industrie und Kreatur aufeinander treffen, verliert die Kreatur.
Weniger Tiere als vor 50 oder 100 Jahren werden trotz aller Produktivitätszuwächse heute nicht gehalten, weil der Appetit auf Fleisch sich so ausgeweitet hat, dass es heute an jeder Ecke als Snack zu bekommen ist – die Kapazität in Großvieheinheiten in den Ställen für gleichzeitig gehaltene Tiere mag zwar geringer sein, die Schlachtzahlen sprechen eine beredte und sehr klare Sprache. Wenn es vorzuziehen ist, weniger Tiere zu halten und zu schlachten, wie die Autoren es implizieren, sei dazu angemerkt: Für eine jedem Alter und jeder Lebenssituation angemessenen veganen Ernährung werden gar keine Tiere geschlachtet…

1 genau genommen: Pferde zwischen 3 und 14 Jahren

Quellen

[1] Statista: Milchleistung je Kuh in Deutschland in den Jahren 1900 bis 2015 (in Kilogramm)
[2] SWR: Die vermeidbaren Qualen der Ente: Verbrauchergeiz und Produzentengier verhindern eine tiergerechte Ente
[3] Albert Schweitzer Stiftung: Puten
[4] von Witzke, Noleppa, Zhirkova 2011, Fleisch frisst Land
[5] Der Spiegel: Im Akkord zur Schlachtreife
[6] Destatis: Tiere und tierische Erzeugung
[7] Destatis: Entwicklung der Großvieheinheiten in Deutschland