Kurzzusammenfassung:
Die Autoren mutmaßen, warum der Veganismus gerade bei Frauen so beliebt sei: endlich könnten sie wieder in den Spiegel schauen. „Veganismus ist die Gelegenheit, Persönlichkeits- und Essstörungen als ethische Hochbegabung auszugeben.“ Zudem wird wieder einmal das Bild eines totalitären Veganismus gezeichnet, bei dem die „veganen Kampfhühner angerannt [kommen] und […] der schwächelnden Artgenossin die Augen aus[hacken]“, nachdem ihr Blick auf ein Putenstreifen gefallen sei. Zudem wird wieder einmal das Bild einer Religion gezeichnet.
Ihr wisst nicht worum es geht? Hier geht es zur Einleitung und hier geht es zur zehnten Tür des Kalenders „Märchen: Wölfe sind ganz lieb„.
„Fromme Lüge: Vegan essen ist kein Verzicht, sondern wahrer Genuss“
1. Der Tod des Genusses
Obwohl die Autoren selbst die Welt der übertriebenen Werbeversprechen zu verstehen scheinen, das Buch spricht ja von „Argumenten“, scheint die Medienkompetenz nicht weit genug gediegen zu sein, um Buchtitel wie „Vegan for fit – die super Genuss-Diät“ als Werbestrategie zu verstehen, sondern als Versprechen, das in der Tat so einfach einlösbar wäre. Macht auch Sinn. Marken-Parfums und Deos sind ja auch Garanten, um Sexual- und Beziehungspartner zu finden. Dass solche Werbeversprechen kritisiert werden können, ist also weder neu, noch ein großer Wurf, sondern Teil allgemeiner Konsumkritik im Kapitalismus. Damit aber kann es kein Argument gegen den Veganismus als solches sein, sondern nur gegen bestimmte Markt- und Werbelogiken.
Weiter gehen die Autoren allerdings nicht auf den Punkt ein. Veganismus ist der Verzicht auf tierische Produkte. Punkt. Warum eine quantitative Einschränkung dessen, was gegessen wird, gleichbedeutend mit einer qualitativen Einschränkung des Genusses einher gehen soll, wird freilich nicht erklärt. Ebenso wenig, ob es dann nicht so sei, dass überhaupt alle Formen der Ernährung ein Verzicht sind, da alle Ernährung verzichtet, denn keine Küche der Welt nimmt alles theoretisch Essbare in sich auf. Das Essen ist ein komplexer sozialer und kultureller Vorgang, ebenso wie die Bestimmung dessen, was als essbar gilt.
Die Kriterien zur Definition von Essbarem und nicht-Essbarem werden dabei von kulturellen Faktoren bestimmt – prinzipiell könnte alles, das nicht giftig ist, von Menschen verzehrt werden, dennoch essen wir nur einen Bruchteil der als potentiell essbar klassifizierten Dinge. Denn dem Essbaren werden über die bloße Essbarkeit hinaus weitere Bedeutungen zugeschrieben;. Es wird beispielsweise als „gesund“, „besonders“, „eklig“ oder „wider göttlichen Rechts“ eingestuft. Damit wird die Verfügbarkeit der Nahrungsmittel an die Gesellschaft und deren Struktur angepasst; Es wird also nicht nur festgelegt, was essbar ist, sondern auch, was gegessen werden sollte, wer ein bestimmtes Gericht verzehren darf und wer nicht und vor allem, was dieser Verzehr vermeintlich über diesen Menschen aussagt.
Was Menschen essen, essen sie also, weil sie gelernt haben, diese Speisen für sich als Individuen und Angehörige einer sozialen Gruppe als essbar und erlaubt zu definieren. Persönliche Geschmäcker entstehen dabei vor allem durch unterschiedliche Aneignung, also durch ein unterschiedliches Erlernen, Annehmen und Kombinieren gesellschaftlicher Konventionen und Möglichkeiten. Was ein Mensch tatsächlich isst, ist nur ein winziger Ausschnitt des grundsätzlich Möglichen. Was sich anhand von Essen betrachten lässt, ist schlussendlich das, was Kultur „tut“: die Schaffung einer Auswahl und von Bedeutung in einer ansonsten für uns weitgehend bedeutungslosen und scheinbar unendlich chaotischen Welt.
Das aber ist bei jeder Form der Ernährung so. Wichtig sind auch hier wieder die Begründungen. Und die sind bei der veganen Ernährung und Lebensweise eben andere, vor allem ethische. Und in dieser Hinsicht kann die vegane Lebensweise in der Tat mehr Genuss sein, ein Genuss mit einem relativ guten Gewissen.
2. Der Tod der Selbstbestimmung
Damit steht es nun aber schon schlecht um den zweiten Einwand, den die Autoren in diesem Kapitel zu formulieren versuchen, der „Selbstbestimmung“ und „Toleranz“, die sie gewohnt unkritisch zu ihren Zwecken ins Feld führen. Diese, wie auch die Demokratie als solches, seien nämlich dadurch gefährdet, dass so „vegane Kampfhühner“, wie zum Beispiel Joy und Sezgin, den Menschen „ungefragt ins Essen quatschen“ würden. Wer sich allerdings ein wenig mit dem Thema Ernährungskultur beschäftigt, merkt schnell, dass diese eben immer schon durch die Gesellschaft, durch Vorstellungen und Gruppen beeinflusst ist. Der Veganismus macht in erster Linie dabei nichts anderes, als diese Einflüsse zu benennen und offenzulegen. Genau genommen also etwas sehr demokratisches. Ebenso würde ein angebotenes veganes Gericht in Kantinen und Mensen die Wahlfreiheit erhöhen, nicht einschränken.
Das Konzept des kritischen, selbstbestimmten und emanzipierten Denkens und Handelns, das die Autoren leider nicht verstanden haben, basiert nämlich gerade darauf, sowohl informiert zu sein, als auch, die eigenen Bedürfnisse und äußeren Einflüssen zu erkennen und kritisch zu hinterfragen. Ein „Ins-Essen-quatschen“, um bestimmte Prozesse und Wahrnehmungsfilter aufzuzeigen, ist also notwendig, da letztlich sowieso immer vorhanden, meist jedoch unbewusst. Das Beispiel mit religiösen Dogmen wendet sich aber dann gegen die Autoren selbst, denen dieses Hinterfragen leider fremd ist.
3. Die Bösartigkeit des Gefühls etwas Gutes zu tun
Zu guter Letzt versuchen die Autoren ihr Unbehagen gegen das Gefühl etwas Gutes getan zu haben, auszudrücken, denn dieses Gefühl des „Tugendhaften“ entstamme ohnehin nur „niederen Instinkten“. Als Psychologen und Verhaltensforscher sehen Pollmer und seine Mitautoren die Veganer*innen als „Erlöser“, die sich am „schlechten Gewissen“ der Anderen erfreuen. Welchen Stellenwert dabei das Sendungsbewusstsein der Autoren hat, bleibt leider ungeklärt.
Übersehen wird auch, dass das Gefühl etwas Gutes getan zu haben zwar selbstredend auch Gefahr laufen kann, in Selbstgerechtigkeit zu enden – die Autoren wissen sicher wovon ich rede – aber prinzipiell wichtig ist. Emotionen sind körpereigene Belohnungssysteme, die durchaus unser Handeln regulieren. Das bedeutet nicht, dass diese unhinterfragt Geltung beanspruchen sollen, denn diese Gefühle sind genauso wie das Essen gesellschaftlich formbar, es bedeutet aber, dass all unser Handeln davon betroffen ist, sich lieber gut fühlen zu wollen als schlecht und daran nichts an sich Verwerfliches ist, insbesondere da in unserer Gesellschaft oft genug Undank Lohn dafür ist, jemandem in Not zu helfen.
4. Verzicht, Ablehnung und Wohlstandserscheinungen
Wir hatten bereits den Unterschied zwischen Qualität und Quantität angesprochen, und wollen ihn nun vertiefen. Angesprochen darauf, dass der Philosoph Platon in seiner Staatstheorie für eine Philosophenherrschaft plädierte, wurde der Philosoph Markus Wild, der den Begriff der „Tierphilosophie“ im deutschsprachigen Raum etabliert hat, gefragt, was für ihn das wichtigste Anliegen in Bezug auf Tiere sei. Er antwortete:
„Das ist ein bisschen schwierig, weil es so viele Dinge gibt. Vielleicht würde ich Folgendes machen – und das klingt jetzt so ein bisschen spaßbremsig: Mir würde es darum gehen zu zeigen, dass Verzicht keine Einbuße an Lebensqualität bedeutet, und es müsste Programme geben, die das deutlich machen. Weil die meisten Leute, die sogar eine Bereitschaft hätten, auf Dinge zu verzichten, wie Fleisch, Milch oder andere Produkte, wo der Verzicht eigentlich ganz viel Leid abbauen würde, bringen das immer in Verbindung mit einer Abnahme von Lebensqualität. Ich glaube, das ist eine perspektivische Verzerrung. Die hat z. B. damit zu tun, dass wir glauben, wir brauchen 100 % unseres Nahrungsspektrums, und wenn ich 25 % auslasse, ist das ein Verzicht. Aber niemand von uns isst alles, was man essen könnte.“ (BLAUFUX, 4/2106, S. 23)
Wir können ihm nur beipflichten, auch wenn wir nicht von Verzicht, sondern von bewusster Ablehnung sprechen würden. Es macht einen fundamentalen Unterschied, ob man auf etwas verzichtet (und also noch das Bedürfnis danach hat) oder ob man etwas ablehnt (und dementsprechend das Bedürfnis minimiert bzw. gar nicht mehr empfindet).
Geschmack wird in der Kindheit und sogar bis in den Mutterleib hinein geprägt. Wir kommen also nicht als tabula rasa auf die Welt und stellen dann fest, was uns schmeckt. Unsere Bedürfnisse sind immer schon eingebunden in soziale Prozesse. Insofern kann auch nicht gesagt werden, dass es ein grundlegendes Bedürfnis nach Fleisch oder tierlichen Produkten gibt und Veganer*innen sich ja nur selbst betrügen würden, wenn sie auf Ersatzprodukte zurückgreifen. Zum einen wird dabei verkannt, dass die meisten Veganer*innen omnivor sozialisiert wurden, und zum anderen, dass auch andere Motive wirksam werden können. Wenn aber das ethische Motiv das geschmackliche überwiegt, dann handelt es sich nicht um einen Verzicht, sondern um eine Ablehnung. Ebenso würden wohl die wenigsten Menschen sagen, auf Katzen- oder Hundefleisch zu „verzichten“ – sie lehnen dessen Konsum einfach ab.
Der Versuch, die Genussfeindlichkeit der veganen Lebensweise zu postulieren, basiert letztlich auf einem hedonistischen Ansatz, der die Lust zur entscheidenden Maxime macht. Und zwar nicht die Lust aller in Abgrenzung zu anderen, sondern die Lust einzelner. Veganismus wird auf eine Ernährungsweise und einen Lifestyle reduziert (und es gibt leider genug Menschen, die auf diesen Gesundheits- und Fitnesszug aufspringen und sich fälschlicherweise Veganer*In nennen). Aber es wird verkannt, dass die Informations- und Essmöglichkeiten so groß sind wie noch nie. Wer im Angesicht der Fülle an Nahrungsmitteln sagt, man könne vegan nicht genießen, der lügt. Zumal viele Menschen sich auch erst im Zuge der veganen Lebensweise ernsthaft mit Ernährung auseinandersetzen und gutes Kochen für sich entdecken.
Nun hören wir schon den Einwand, dass die Vielfalt der Nahrung der Globalisierung geschuldet sei und der Veganismus eine „Wohlstandserscheinung“. Es ist richtig, dass das Nahrungsangebot durch die Globalisierung gestiegen ist, was aber kein Einwand gegen den Veganismus ist. Weiterhin ist es zynisch, im Angesicht der Leiden von Menschen und Tieren und dem Einfluss auf die Umwelt durch die Tierhaltung dem Veganismus zum Vorwurf zu machen, nur in einer „Wohlstandsgesellschaft“ seinen Ausdruck zu finden. Zudem sei auf unseren Artikel “Weltweiter Landbedarf für Tierprodukte” verwiesen, aus dem die nachfolgende Grafik entspringt.
Schon allein der Aspekt des enormen Flächenbedarfes zur Erzeugung von Tierprodukten und dem dann doch sehr geringen Anteil dieser an der weltweiten Kalorienversorgung zeigt, dass nicht Veganismus ein Luxusproblem ist, sondern der Konsum von Tierprodukten und der Flächenaspekt stellt dabei nur einen geringen Teil der negativen Umweltauswirkungen von Tierprodukten dar.
Der Veganismus setzt zudem radikal an der Wurzel an und betrachtet selbstverständlich die Zusammenhänge zwischen der Nahrungsproduktion und dem Einfluss auf Menschen, Tiere und die Umwelt. Mit dem Verweis auf den „Wohlstand“ marginalisiert man das Leiden von Menschen und Tieren und macht sich gleichzeitig über andere Anliegen in einer „Wohlstandsgesellschaft“ lustig: Hartz IV ist auch nur eine Wohlstandserscheinung – also dürfen wir daran keine Kritik üben? Unser Schulsystem ist eines der besten der Welt – dürfen wir deswegen ausblenden, wie Kinder teilweise in den Schulen behandelt und unterworfen, wie sie Opfer von Mobbing, Leistungsdruck und Versagensängsten werden? Zumindest in Bezug auf letzteren Punkt haben die Autoren jedenfalls nur Spott übrig (siehe: Blick in den Spiegel: vom Leid der Massenkindhaltung).
Lesetipps
Eva Barlösius: Soziologie des Essens. Eine sozial- und kulturwissenschaftliche Einführung in die Ernährungsforschung, 2. erw. Aufl., Weinheim 2011.
Melanie Joy: Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen. Karnismus – eine Einführung, Münster 2013.
Christian von Scheve: Emotionen und soziale Strukturen. Die affektiven Grundlagen sozialer Ordnung, Frankfurt am Main 2009.
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