Warum Natürlichkeit?

Warum Natürlichkeit?

Wer ein Steak isst, befindet sich bereits in der Ideologie. Wer denkt, nicht in der Ideologie zu sein, weil der Verzehr von Fleisch „natürlich“ ist, befindet sich erst recht in der Ideologie. Was Natürlichkeit, Ideologie, Religion und Wissenschaft miteinander zu tun haben, erfahrt ihr in diesem Artikel.

In einem vorhergehenden Artikel haben wir uns mit den verschiedenen Bedeutungen des Begriffs Natürlichkeit auseinandergesetzt und dargelegt, warum jede dieser Bedeutungen unzureichend ist. Jetzt ist es an der Zeit, die Frage zu stellen, warum wir überhaupt auf eine der Bedeutungen von Natürlichkeit Bezug nehmen und uns auf die Natürlichkeit berufen. Die Antwort ist eine zweifache: Ideologie und Sinnverlust.

Auf der Ebene der Ideologie soll der Bezug zur Natürlichkeit eine Rechtfertigung für ein bestimmtes Verhalten liefern. Wir essen Fleisch, weil es natürlich ist. Richtig? Falsch. Es ist genau umgedreht: Indem wir Fleisch essen, erzeugen wir dessen vermeintliche Natürlichkeit als Rechtfertigung. Das Essen, die gelebte kulturelle Praxis, geht der Rechtfertigung voraus. Wir entscheiden uns nicht bewusst dafür, Fleisch zu essen. Vielmehr essen wir Fleisch und suchen danach erst eine Rechtfertigung für unser Verhalten (falls diese überhaupt nötig ist). Das aber ist nichts anderes als Ideologie. Das Wesen der Ideologie besteht gerade darin, die eigene Gewordenheit und Alternativen zu leugnen und sich dem Anschein des „Es ist schon immer so gewesen“ zu geben.

Die Ideologie plustert sich dabei unverhältnismäßig auf: Das Essen von Fleisch wird nicht in seiner spezifischen Kultur und Produktionsweise betrachtet, sondern enthistorisiert. Dabei liegt es auf der Hand, dass wir nicht schon immer tausende Tiere auf engstem Raum gehalten, sie mit um die halbe Welt transportiertem Soja gefüttert, sie mit einem Auto zum nächsten Schlachthof gekarrt, sie mit Bolzenschussgeräten betäubt und dann im Akkord geschlachtet und schließlich verpackt in Plastik im Supermarkt verkauft haben. Selbst wenn wir zu den gefühlten 98 % derjenigen gehören, die nur das Fleisch vom Bauern nebenan kaufen [1], so schlachtet auch dieser Bauer seine (gehaltenen und durch Züchtung veränderten) Tiere mit optimierten Technologien, die alles sind, nur nicht „natürlich“. Der Prozess der (landwirtschaftlichen) Domestizierung ist keine 11’000 Jahre alt. Selbst wenn man unterstellt, dass wir „schon immer“ Fleisch gegessen haben, so ist die Art und Weise doch keine “natürliche” mehr. Die Aufgabe der Ideologie aber besteht darin, genau das zu verschleiern.

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Nach eigenen Aussagen bezieht ein Großteil der KonsumentInnen nur beim Bio-Metzger nebenanFleischprodukte. Offizielle Zahlen belegen jedoch, dass nur ein verschwindend geringer Teil der Tierprodukte überhaupt das Bio-Siegel tragen. Lügenpresse? [1]
Der zweite Punkt ist ebenfalls von größter Bedeutsamkeit. Denn er betrifft uns und unser Leben direkt. Wir leben in einer Welt der Berechenbarkeit, der Zahlen und der Wissenschaften. „Gott ist tot“, rief Nietzsche aus, und er meinte damit nicht das vollkommene verschwinden der Religion, sondern die Etablierung eines weiteren Phänomens, das den Sinn der Religion in sich trägt: die Wissenschaft. Die Wissenschaft tritt als Sinnstifterin an die Stelle der Religion. Sie trägt den Anspruch in sich, die Welt vollkommen zu erklären und jedes Phänomen beschreiben zu können. Aber sie hat ein Problem: Sie kann diesen Anspruch nicht einlösen. Darum flüchten die Menschen wieder in Religionen, in einfache Erklärungen, wie sie rechte Parteien anbieten, aber auch zu einer anderen Sinnstifterin: Der Natur.
Die Natur wird idealisiert und romantisiert. In ihrer einfachen Form ist diese Romantisierung einfach ein Zurück zu der Natur, wo sie gut ist: Sie heilt Krankheiten, kennt keine Kriege, bewahrt das Schöne der Welt. In diesem Sinne ist der moderne Mensch das Gegenstück zur Natur. In einem komplexeren Sinne aber verbinden sich Wissenschaft und Natur zu einem widersprüchlichen Verhältnis: Der moderne Mensch erkennt die Wissenschaften an, möchte diese aber in Einklang mit der Natur bringen. In diesem Sinne ist der Rückgang zur Natur ein Rückgang zur Natur, nicht wie sie in vormoderner Zeit verstanden wurde, sondern wie sie die Naturwissenschaften beschreiben. Wir haben es demnach mit zwei Arten der Naturverklärung zu tun: Die Natur im “ursprünglichen” Sinne und die Natur im Sinne wissenschaftlicher Erklärungen.
Weil wir keinen Halt mehr in den Religionen finden, weil der Kapitalismus uns keinen Sinn mehr gibt, finden wir einen Halt in (einer vermeintlichen) Natürlichkeit. Natur bedeutet hier das Gegenstück zu den Pathologien, d.h. negativen Auswirkungen, die das kapitalistische System nach sich zieht und in sich trägt. Wenn die Massentierhaltung zu exzessiv wird, müssen wir einfach zur kleinbäuerlichen Haltung zurück. Wenn genetische Manipulation an Pflanzen unabsehbare Folgen hat, müssen wir einfach zur Natur zurück. Wenn die Schulmedizin immer stärker von Lobbyinteressen durchsetzt wird und der kranke Mensch nur noch der Profitmaximierung dient, müssen wir einfach nur zur Natur zurück.

Die schlechten Zustände, die Zerstörung der Natur, ja generell negative kulturelle Aspekte werden nicht mehr durch einen Gott zu retten versucht, sondern durch die Erhebung der Natur zu einer neuen Art Gott. Die Natur wird zwar nicht als Gott gesehen, wie es der Pantheismus tut, aber die Natur wird an die sinnstiftende und Orientierung gebende Stelle eines Gottes gesetzt. Wenn es heißt, der Veganismus sei ein Religionsersatz, so gilt dies vielmehr für die Überhöhung der Natur zum alleinigen normativen Maßstab im Rahmen der Ideologie. Heute rechtfertigt man sich nicht mehr durch die Vorgaben Gottes und die Bibel, sondern durch den Verweis auf die Evolutionstheorie oder die Natürlichkeit von etwas. Die Ideologie hat ganze Arbeit geleistet.

[1] Foodwatch: Zahlen, Daten, Fakten zur Bio-Branche.

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