Adventskalender „Don’t go Pollmer!“ Tür 4: „Irrtum: Vegetarismus ist eine Ernährungsweise“

Adventskalender „Don’t go Pollmer!“ Tür 4: „Irrtum: Vegetarismus ist eine Ernährungsweise“

Kurzzusammenfassung

Vegetarismus sei keine Ernährungsweise, sondern eine Religion. So gäbe es Glaubenskriege untereinander. Die Autoren sprechen von angeblichen Rangfolgen in der veganen Szene und spitzen dies an Beispiel mit Fruchtfliegen obsteilenden Frutariern zu, die aber immer noch unter Menschen stehen, die Lichtnahrung betreiben, zumindest bis das Licht ausgeknipst wird.

Ihr wisst nicht worum es geht? Hier geht es zur Einleitung und hier geht es zur dritten Tür des Kalenders „Endlösung: Alle Nutztiere müssen abgeschafft werden, weil sie leiden„.

„Irrtum: Vegetarismus ist eine Ernährungsweise“

Zur Abwechslung kann den Autoren mal nicht vorgeworfen werden, vollkommen unrecht zu haben. Tatsächlich ist Vegetarismus mehr als nur eine Ernährungsweise. Ebenso wie der Veganismus kann der Vegetarismus neben gesundheitlichen auch ethische, ökologische oder ökonomische Gründe haben. Doch die Autoren wissen wie immer besser Bescheid: „Dem Veganismus wird nur gerecht, wer ihn auch als Religion begreift“.
Wenn aber Vegetarismus oder Veganismus deswegen schlecht seien, weil sie als Religion zu betrachten sind, dann legen die Autoren damit auch fest, dass Religionen an sich etwas Schlechtes sind. Das verwundert etwas aufgrund der „gebetsmühlenartigen” Wiederholung der pollmerschen Polemiken und der Verweigerung, sich mit den Argumenten dezidiert auseinanderzusetzen. Aber die Autoren sind wohl nun einmal auch Religionsexperten. Da ist nichts machen.

Der Vorwurf an sich ist nun nicht neu. Ganz im Gegenteil müssen sich Veganer*innen seit Jahren schon anhören, ihre Lebensweise sei eine Religion. Genauso lange aber warten sie auch schon auf die Antwort, welchen Gott sie anbeten, welchen Messias sie haben, auf welche heilige Schrift sie sich berufen oder welchen streng reglementierten Kodex sie befolgen. Selbstverständlich haben auch die Autoren keine Antworten auf diese Fragen. Was die Autoren aber liefern, ist eine Definition, was Religion sei, um anhand dessen „beweisen” zu können, dass die Beschreibung zutreffen wäre.

Wie begründen sie nun also, dass Vegetarismus und Veganismus als Religion zu begreifen sind? Dadurch, dass in der veganen und vegetarischen Szene Uneinigkeit herrscht, dass Gesundheitsvegetarier gegen ethisch motivierte Vegetarier kämpfen und umgekehrt. Und wieder machen sie sich lieber lustig über die unterstellten Grabenkämpfe, anstatt die inhaltlichen Unterschiede angemessen zu berücksichtigen. Diese unterschiedlichen „Auffassungen” streiten also miteinander darüber, welche die bessere sei, der Vegetarismus oder der Veganismus, der „Gesundheitsveganismus” oder der „ethische”.
Der Einwand funktioniert nun aber aus mehreren Gründen nicht.

1. Alle sozialen Gruppe sind Religionen?

Das entscheidende Kriterium, die internen „Streitigkeiten” und Diskussionen, ist eben kein hinreichendes Merkmal von Religionen, sondern findet in allen sozialen Gruppen statt.
Dabei sind es in diesem Fall sogar die Autoren, die jene Gruppe von Menschen erst einmal homogenisieren, die sich nicht homogenisieren lässt (zumindest nicht in der von den Autoren unterstellten Hinsicht), um sich dann scheinbar zu wundern, dass einzelne Untergruppen der imaginierten Gesamtgruppe im Widerstreit miteinander stehen. Ebenso könnte man sagen, Parteien seien eigentlich Religionen, da selbst innerhalb einer Partei verschiedene Gruppierungen bestehen, die sich gegenseitig befehden (im politischen Spektrum ausgedrückt durch rechte- und linke Parteiflügel).
Und selbst in der Gruppe derer, die gern als Gegenüber von Religion gefasst werden, nämlich Wissenschaftlern, wird zum Teil vehement bis polemisch um Theorien, Konsequenzen, kurz darum, wer „Recht” habe, gestritten. Nach der Definition der Autoren ist Wissenschaft damit ebenfalls Religion.

Wie mag wohl die Suche nach Argumenten bei den Autoren ausgehen haben? „Vegetarismus und Veganismus sind eine Religion. Hehe, das klingt gut. Moment, die haben aber gar keinen Gott, keinen Messias, keine heilige Schrift und im Großen und Ganzen nicht annähernd Merkmale einer Religion. Mist! Aber halt! Vegetarier*innen und Veganer*innen bekriegen sich. Da muss sich doch was draus machen lassen!“. Andere Menschen würden vielleicht zu dem Schluss kommen, dass verschiedene Begründungen im Widerstreit miteinander stehen können oder dass Meinungsverschiedenheiten in einer demokratischen und pluralistischen Gemeinschaft unvermeidbar sind, erst Recht, wenn es sich um eine so inhomogene Gruppe wie bei VegetarierInnen, VeganerInnen oder FrutarierInnen handelt. Aber wieso Inhalte ergründen, wenn das Urteil vorher schon feststeht? Manchmal hat man das Gefühl, bei Superbrain zu sein.

2. Gibt es den Veganer-Gott?

Kurz: nein. Was die Autoren hier übersehen, ist im Gegensatz zu den von ihnen angesprochenen aber ganz normalen Gruppendynamiken von Eingrenzung und Abgrenzung ein wirkliches zentrales Merkmal von Religionen, nämlich die Begründung der Lehren und der Grad der Wandelbarkeit. Der Veganismus orientiert sich an wissenschaftlichen Erkenntnissen und ethischen Reflektionen, die die Begründungen liefern. Diese sind einerseits offen für neue Erkenntnisse und andererseits unterliegen sie wissenschaftlicher Begründbarkeit. Sie basieren also weit weniger auf axiomatischen Setzungen im Vergleich zu Religionen.
Wenn die Autoren nun aber gemeint hätten, dass Veganer*innen und Vegetarier*innen im Alltag, in ihrem alltäglichen Handeln auf bestimmte Handlungsmuster und Vereinfachungen zurückgreifen, auf einfach kommunizierbare und anwendbare Regeln also, dann sieht die Erwiderung ähnlich aus wie beim ersten Punkt. Der Philosoph Richard Mervyn Hare hat dieses Verhalten im Bereich der Ethik als Zwei-Ebenen-Modell ausgearbeitet. Es bedeutet, dass wir als Menschen einfache Regeln brauchen, um schnell und effizient handeln zu können. Im Alltag handeln wir damit alle mit Hilfe solch einfacher und routinierter Muster. Die Ebene der ethischen Reflektion abstrahiert aber von diesen, sie kann sie kritisieren, bestätigen oder verwerfen. Das aber benötigt Zeit, ist aufwendig und eben gerade nicht permanent durchführbar, schon allein aufgrund der kognitiven Begrenztheit des Menschen. Diese Ebene zeichnet aber ein ethisches Modell wie den Veganismus aus. Die einfachen Regeln des Alltags werden immer wieder überprüft, vor allem dann, wenn es zu neuen Erkenntnissen kommt, die dann in diese Regeln integriert werden können, um im Alltag dann wieder relativ sicher agieren zu können.

3. Fleischessen ist frei von Vorannahmen und aggressiver Abwertung?

Das Bild, das die Autoren vom Vegetarismus (und auch Veganismus) zeichnen, ist also grundlegend falsch. Insbesondere auch deswegen, weil sie bestimmte Dinge dem Vegetarismus im Gegensatz zum Fleischessen zuschreiben. Dazu gehören eben jene verallgemeinerten als aggressiv gewerteten Abgrenzungserscheinungen. Dann aber wäre die Frage, was denn die Autoren mit ihrem Buch betreiben, wenn keine Abgrenzung? Und wie sind dann die vielen polemischen und gewaltsamen Äußerungen hineingekommen? Die meisten Vegetarier*innen und Veganer*innen sind in ihrem Leben schon einmal angefeindet worden und das bloß, weil sie sich anders ernähren, anders verhalten und anders über bestimmte Dinge denken. Sie stellen im Prinzip eine Bedrohung für die Selbstverständlichkeiten und Sicherheiten dar, die soziale Gruppen errichten, um Handlungs- und Erwartungssicherheit, Orientierung und Gemeinschaft als Wertegemeinschaft zu schaffen. Das gilt auch für das Fleischessen und wurde u.a. von Eva Barlösius und Melanie Joy ausgearbeitet. Die Vorannahmen von Fleischessern, die Kultur, in die sie hineingewachsen sind und die ihnen im sozialen Rahmen Sicherheit gibt, wird also dadurch infrage gestellt, dass es auf einmal auch eine andere Möglichkeit gibt. Das kostet Sicherheit und ist einer der Gründe für ein aggressives und ablehnendes Verhalten. Einfache Regeln, Vorannahmen und aggressive Abgrenzung und Abwertung findet man also auch bei Fleischessern, insbesondere gegenüber Nicht-Fleischessern. Nach der Definition der Autoren, ist somit auch das Essen von Fleisch als Religion zu bezeichnen.
Im Gegensatz zum Veganismus/Vegetarismus ist das Fleischessen nämlich viel deutlicher als Religion zu begreifen, denn die Moral des Fleischessens wird ganz besonders anerzogen und gesellschaftlich zementiert und deshalb auch nicht hinterfragt. Es wird deshalb geradezu mit Missionierungsdrang auf diejenigen eingewirkt, die diese Moral hinterfragen – nämlich die Veganer*innen und Vegetarier*innen. Veganismus beruht auf ethischen/moralischen Grundüberlegungen, die rational entstanden sind. Das Fleischessen in unserer Gesellschaft wird hingegen anerzogen und zur Not mit irrationalen Argumenten verteidigt.

Lesetipps

Eva Barlösius: Soziologie des Essens. Eine sozial- und kulturwissenschaftliche Einführung in die Ernährungsforschung, 2. erw. Aufl., Weinheim 2011.

Melanie Joy: Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen. Karnismus – eine Einführung, Münster 2013.

Richary Mervyn Hare: Moralisches Denken. Seine Ebenen, seine Methode, sein Witz, Frankfurt am Main 1992.

Fünfte Tür

Hier geht es zum fünften Türchen des Adventskalenders:
Unsensibel: Pflanzen empfinden nichts, also darf man sie essen